10 Thesen zum kritischen Wirtschaftsjournalismus
1. Wirtschaftsjournalismus wird in den Verlagen und Sendern nicht als Oase des kritischen Journalismus verstanden. Wirtschaftsjournalismus ist in der Tendenz unkritischer und affirmativer als die Berichterstattung in anderen Ressorts. In den Politik- und Kulturressorts gibt es eine höhere Pluralität von Meinungen, Analysen und Haltungen der Autoren.
2. Wirtschaftsjournalismus bewegt sich in einem schwierigen Quellenumfeld. Viele Informanten verhalten sich sehr reserviert, weil die Sanktionen bei möglicher Aufdeckung direkter und schärfer als in anderen Branchen erfolgen. Anders als in Politik und Kultur ist der Markt der akademischen und wissenschaftlichen Positionen viel stärker auf einen Elitenkonsens in ökonomischen und wirtschaftspolitischen Fragen konzentriert. Der Meinungsmarkt in ökonomischen Fragen ist auffallend ungewöhnlich homogen (vgl. wirtschaftswissenschaftliche Lehrstühle, politischer Konsens in der Parteienlandschaft).
3. Der Wirtschaftsjournalismus, der bis in die späten 1990er Jahre besprochen und als trocken und leserfern kritisiert wurde, ist so kaum noch existent. Er wurde abgelöst von einer Wirtschaftsberichterstattung, die als Verbraucher-, Service- oder Nutzwertjournalismus charakterisiert werden kann. Dieser neue Typ der Wirtschaftsberichterstattung ist der analytischen, hintergründigen Wirtschaftsberichterstattung quantitativ weit überlegen. Der Nutzwert- und Servicejournalismus wird so zum erwartbaren Mainstream – auch für Unternehmen.
4. Auswege aus der Falle des rein produktorientierten Wirtschaftsjournalismus gibt es nur, wenn man hinter den Produkten das wirtschaftliche Handeln der Unternehmen durchdringt. Das geht nur, wenn Journalisten ihre Hausaufgaben machen, Zusammenhänge recherchieren, Interessen analysieren und Bilanzen prüfen. Dies erfordert zunehmend internationale und computergestützte Recherche. Dafür müssen Verlage und Sender mehr Zeit für Recherche und damit Geld für Redaktionen zur Verfügung stellen.
5. Im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit und der PR fand eine massive Aufrüstung statt. 2006 versorgten in Deutschland nach Schätzungen der Verbände 30.000 bis 50.000 PR-Mitarbeiter rund 48.000 hauptberufliche Journalisten mit Informationen. Während die Zahl der Journalisten in den vergangenen Jahren konstant blieb, stieg die der PR-Mitarbeiter drastisch an. Viele freie Journalisten arbeiten als Servicejournalisten und machen nebenbei immer wieder PR. Eine zunehmend geduldete Verquickung, die auch von vielen Verantwortlichen akzeptiert wird.
6. Wirtschaftsjournalismus hat eine große Affinität zum Anzeigenumfeld und zu Spezialbeilagen aus dem Themenfeld „Ökonomie und Dienstleistung“. Daraus folgt, dass Anzeigenkunden keinen fundamentalen Widerspruch zu ihren Marktaussagen im redaktionellen Teil wünschen.
7. Vor den oben beschriebenen Problemen steht jeder kritische Journalist. Doch recherchierende Wirtschaftsjournalisten stoßen noch an ganz andere Grenzen: Zentrale Objekte der Wirtschaftsberichterstattung sind Privatunternehmen. Diese können im Gegensatz zu Behörden und anderen öffentlichen Einrichtungen den Informationsfluss weitestgehend selbst steuern. Denn eine grundsätzliche Auskunftspflicht gegenüber Journalisten besteht nicht. Damit hat das Unternehmen dem Journalisten gegenüber nahezu ein Informationsmonopol.
8. Die Unternehmen scheinen diese für sie sehr günstige Situation zu nutzen. Konzerne und Verbände rüsten vor allem im Bereich der strategischen Öffentlichkeitsarbeit auf. Sie lassen Themen schon im Vorfeld identifizieren, analysieren und versuchen, die öffentliche Diskussion zu lenken.
9. Die Interviewabsage ist nicht die einzige Strategie, die gegen kritische Journalisten eingesetzt wird. Besonders Zeitungen fürchten den Anzeigenboykott. Immer wieder werden Einzelfälle bekannt, in denen Unternehmen kritische Berichte auf diese Art und Weise „bestraft“ haben. Solche „Strafaktionen“ treffen die Verlage und Sender immer härter. Doch wie oft dies der Fall ist, weiß niemand, da die betroffenen Medien meist schweigen. Das ist fatal, da die einzige effektive Gegenwehr wäre, diese Fälle immer sofort öffentlich zu machen.
Dem steht gegenüber, dass Anzeigenboykott bislang selten vorkommt und zudem durch die dadurch ausgelöste Diskussion und Solidarisierung eher dem boykottierenden Unternehmen schadet.
10. Ob Unternehmen tatsächlich häufiger als bisher gegen kritische Berichterstattung vor Gericht ziehen, könnte nur eine umfassende, empirische Studie klären. Klar ist, dass es Kanzleien gibt, die mit aggressiven, teuren und Zeit raubenden Klagestrategien kritische Journalisten unter Druck setzten. Journalisten, die nachfragen und nachdenken, haben jedoch weiterhin die Chance, ihre Ergebnisse zu veröffentlichen. Die Möglichkeiten sind in Deutschland besser als in etlichen anderen europäischen Ländern. Noch gibt es Qualitätsmedien, die Distanz zur Wirtschaft wahren.