Zwischen Propaganda und Kommerz – Medien(un)freiheit in Südost-, Mittelost- und Osteuropa

„Es erinnert fatal an die Jahre des Kommunismus, an das altbekannte menschenverachtende Prinzip: Soll es DORT ruhig einen Eisernen Vorhang geben, soll DORT Tyrannei herrschen, solange wir uns nur heraushalten können und davon unbeschadet bleiben, solange Erdöl und Erdgas nur schön weiter zu uns fließen“ Anna Politkowskaja, am 7. Oktober 2006 in Moskau ermordete Journalistin

Vorwort

nr-studie-zur-pressefreiheit-titelseiteSeit Beginn der 1990er Jahre befinden sich die Transformationsländer Mittelost-, Südost- und Osteuropas auf dem Weg hin zu mehr Demokratie und Medienfreiheit. Rückschläge und Fortschritte sind dabei gleichermaßen zu verzeichnen. Was heute gilt, ist oft morgen schon veraltet. Wie kompliziert es ist, diesen rasanten Prozess journalistisch zu begleiten, zeigt ein Blick auf die westeuropäische Berichterstattung.

Westliche Journalisten und Medien tun sich immer noch schwer, ihr vom Sowjet-Kommunismus geprägtes Bild der vielschichtigen Realität anzupassen. Bisweilen hat es den Anschein, als habe man den vermeintlich grauen Ostblock einfach mit einer neuen, farbigeren Tapete beklebt. An der Blockbildung selbst aber hat sich noch nichts geändert: Westlich der Oder wohnen Fortschritt, Demokratie und Meinungsfreiheit, östlich ist allenfalls eine „defekte Demokratie“ zu finden. Je weiter östlich, desto defekter.

Orientierungshilfen gibt es dabei nur wenige. Presse-Rankings westlicher Nichtregierungsorganisationen mit oft zweifelhafter Datenbasis dienen vielen Journalisten in ihrer Not als vermeintlich letzter Beleg dafür, dass es nicht weit her ist mit der Medienfreiheit in Osteuropa. Es ist ein Reden derer, die schon wissen, „wie es geht“, gerichtet an die, die fast wie kleine Kinder herangezogen werden sollen an die westlichen Maßstäbe von Demokratie und Medienfreiheit.

Das Netzwerk Recherche bemüht sich mit einem Bündel von Aktivitäten die journalistische Recherche in der Medienpraxis zu stärken. Das Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung n-ost setzt sich für eine bessere Berichterstattung aus und über Mittel- und Osteuropa ein. Im n-ost e.V. sind Journalisten aus Deutschland und 20 osteuropäischen Ländern verbunden. Gemeinsam engagieren sich Netzwerk Recherche und n-ost für eine Stärkung der Medienfreiheit und gegen Begrenzungen und Einschränkungen der journalistischen Recherche – als Voraussetzung einer demokratischen Entwicklung.

Wir fordern einen differenzierten und dabei auch selbstkritischen Blick auf unsere östlichen Nachbarn und Kollegen. Diese Studie soll den Anfang dazu machen. Sie beschreibt die schwierigen Umwälzungsprozesse nach 1989 und die sehr komplexen Gründe dafür, dass zwischen dem verbrieften Recht auf Presse- und Medienfreiheit in vielen Transformationsländern und der tatsächlichen Situation von Journalisten vor Ort oftmals eine tiefe Lücke klafft.

Die bloße Adaption von Verfassungen und Medienprodukten nach westlichem Vorbild hat in einigen Ländern nicht verhindert, dass Korruption und klientelistische Netzwerke den journalistischen Alltag bestimmen. Umso größer ist das Entsetzen und die Enttäuschung westlicher Kollegen – ohne sich allerdings jemals mit den schwierigen Transformationsprozessen, den Eigenheiten der lokalen Medienentwicklungen und den tatsächlichen Behinderungen unabhängiger Recherche befasst zu haben.

Medienfreiheit ist kein Gut, das verordnet oder nach einer Blaupause produziert werden kann. Es ist ein Grundrecht, das sich Gesellschaften aktiv aneignen und das Journalisten leben müssen. Und es ist ein Grundrecht, das auch mit einer Grundpflicht verbunden ist, der Pflicht nach bestem Wissen und Gewissen zu berichten. Wenn sich nach ernstzunehmenden Umfragen aus dem Jahre 2004 75 Prozent der russischen Bevölkerung und auch fast die Hälfte der Journalisten die Wiedereinführung der Zensur wünschen (Quelle: amnesty international), so wirft das einerseits ein erschreckendes Licht auf die gegenwärtige Lage der Demokratie in Russland, stellt aber auch die Frage nach den Standards journalistischer Arbeit in den Jelzin-Jahren. Wenn Demokratie und Journalismus keine klaren Regeln kennen und nur noch mit Chaos assoziiert werden, gerät Meinungspluralismus schnell zum verzichtbaren Gut. Journalisten wie Anna Politkowskaja mussten nicht nur gegen den Staat kämpfen, sie mussten sich oft genug auch gegen das eigene Volk behaupten, das unabhängige Journalisten zunehmend als Nestbeschmutzer wahrnimmt und kritischen Journalismus gar nicht nachfragt.

In vielen Teilen Osteuropas muss Medienfreiheit nicht wiederhergestellt werden. Es hat sie faktisch nie gegeben. Die Bedeutung und Bedingungen von kritischem Journalismus zu erkennen, ist ein Prozess, der übrigens auch im Westen noch lange nicht abgeschlossen ist, wie etwa der sinkende Stellenwert des investigativen Journalismus` in Deutschland zeigt. Vielleicht hält uns der Osten da einen Spiegel unserer eigenen Zukunft vor?

Die vorliegende Studie beleuchtet die Situation der Medien in zehn Transformationsländern. Jedes Länderkapitel kann dabei nur eine Momentaufnahme und eine Einführung in das Thema sein. Vorweg geschickt werden notwendige Betrachtungen zur Transformationsdynamik, zur Begriffsgeschichte von Freiheit und der Problematik einer Berichterstattung über „Osteuropa“ per se.

Wir wollen dazu anregen, unsere Kategorien zu überdenken. Brechen wir den Ostblock endlich auf. Lassen wir uns ein auf die vielfältigen Sichtweisen unserer osteuropäischen Kollegen. Reden wir nicht länger aneinander vorbei. Vernetzen wir uns, beginnen wir den Dialog. Unterstützen wir dort, wo wirklich Hilfe und Rat gefragt sind und hören wir zu, wo andere uns wertvolle Erfahrungen voraushaben. Nur so gelingt ein Verständnis, das nicht länger von Vorurteilen, Vorbehalten und falschen Rezepten geprägt ist.

Die Dokumentation „Zwischen Propaganda und Kommerz – Medien(un)freiheit in Südost-, Mittelost- und Osteuropa“ dient als Argumentations-Fundament für unsere ambitionierte Fachkonferenz im NDR in Hamburg. Wir bemühen uns hier um analytische Tiefenschärfe in der Bewertung der jeweils praktizierten Pressefreiheit, stets in der Gewissheit, dass die vollständige Presse- und Meinungsfreiheit die unabdingbare Voraussetzung für Demokratie-Entwicklung ist.

Wir danken der Friedrich-Ebert-Stiftung für die Bereitstellung von „Länderberichten“ unabhängiger Experten, die in diese Studie eingeflossen sind. Bedanken möchten wir uns auch bei der „Freiburger Kantstiftung“, die die Veröffentlichung dieser Studie unterstützt hat.

Dr. Thomas Leif (Netzwerk Recherche)
Jan Zappner / Christian Mihr (n-ost – Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung e.V.)

Inhaltsverzeichnis

I. Die Mauer im Kopf – „Wir und die da drüben“ (S. 1)
Pressefreiheit – ein west-europäischer Traum, an den im Osten keiner glaubt? (S. 2)
Südost-, Mittelost-, Ost – Europa: eine Frage der Abgrenzung (S. 3)
Demokratie und Medienfreiheit: zwischen Anspruch und Wirklichkeit (S. 6)
Geschichte gibt den Weg vor – wiederholt sich aber nicht (S. 7)
Die Medien im Strudel der Transformation (S. 8)
Die Ranking-Falle: Ist Medien(un)freiheit messbar? (S. 10)
Im Osten nichts Neues? Die Problematik der Beschleunigung (S. 14)
II. Eine Analyse der Medienlandschaften (S. 16)
Russland (S. 16)
Belarus (S. 30)
Ukraine (S. 37)
Georgien (S. 45)
Serbien (S. 52)
Kroatien (S. 59)
Rumänien (S. 65)
Bulgarien (S. 73)
Tschechien (S. 80)
Polen (S. 88)
Fazit (S. 99)
Bibliographisches Verzeichnis (S. 105)

 

nr-Studie zur Pressefreiheit
Zwischen Propaganda und Kommerz – Medien(un)freiheit in Südost-, Mittelost- und Osteuropa (118 S., 2.699 KB) [PDF]

von Simone Schlindwein, n-ost e.V. Hrsg. v. Netzwerk Recherche. –
Wiesbaden : Netzwerk Recherche, Mai 2007. – 118 S.
Konzeption: Dr. Thomas Leif, Netzwerk Recherche e.V. ; Christian Mihr, n-ost e.V.
V.i.S.d.P.: Dr. Thomas Leif, Wiesbaden
Redaktion: Oliver Bilger ; Matthias Echterhagen ; Christina Hebel ; Ulrich Heyden ; Anna Litwinenko ; Drago Pilsel ; Andreas Metz ; Christian Mihr ; Tatjana Montik ; Annett Müller ; Steffen Neumann ; Maryna Rakhlei ; Norbert Rütsche ; Silja Schultheis ; Hendrik Sittig ; Jutta Sommerbauer ; Timo Vogt ; Veronika Wengert ; Jan Zappner – alle n-ost e.V.
Titelfoto: Andreas Metz, n-ost e.V.
Titelgestaltung: nina faber de.sign, Wiesbaden
Druck: ColorDruck Leimen