Kritischer Wirtschaftsjournalismus
Chancen eines aussterbenden Genres
20.-22. Oktober 2006, ZFP, Wiesbaden
Gut scheint es dem kritischen Wirtschaftsjournalismus derzeit nicht zu gehen. Das ist jedenfalls das eine Fazit, das nach der dreitägigen nr-Fachtagung zum Thema Mitte Oktober in Wiesbaden gezogen werden kann. So hat etwa der freie Autor Christian Nürnberger ein düsteres Bild für das Gros der Presse im Allgemeinen und die Wirtschaftsberichterstattung im Besondern festgestellt: “Die Pressefreiheit endet da, wo die Selbstzerstörung beginnt.” Festgemacht hat er die Negativfolgen der fortschreitenden Pressekonzentration und des um sich greifenden Renditedrucks in den Medienhäusern unter anderem an seinem Heimatblatt, der Frankfurter Rundschau, “die es nicht mehr gibt” hinter dem Namen würde sich ein anderes Blatt verbergen als er es vor 30 Jahren kennen gelernt habe.
Neben dem steigenden internen wirtschaftlichen Druck in den Redaktionen, der offenbar an vielen Stellen fortlaufend Geld für die Recherche frisst und die Belastung des einzelnen Journalisten erhöht, steigt auch der Einfluss und Druck der PR-Industrie, deren Mitarbeiterzahl im Gegensatz zu den Journalisten seit Jahren steigt. Auf einen kritischen Monitor-Bericht hin überzog etwa die Fluglinie Air Berlin die ARD mit einer Flächenklage reichte also Klage gegen jede einzelne Anstalt ein. “Inzwischen sind bei Monitor, aber auch bei Panorama ständig mehrere Mitarbeiter damit beschäftigt, unterschiedlichste Rechtsstreite zu bearbeiten”, sagte die freie Journalistin Julia Friedrichs.
Zusätzlich zur erhöhten Klagefreudigkeit betroffener Unternehmen werden, das wurde in den drei Tagen mehrfach von verschiedenen Kollegen berichtet, Redaktionen auch mit Anzeigenboykotten bestraft so geschehen etwa bei Regionalzeitungen, die kritisch über die Arbeitsbedingungen bei Lidl berichtet haben, und auch bei der “Süddeutschen Zeitung” in einem ähnlichen Fall zum Handelsriesen Aldi.
“Ich sehe allerdings immer noch eine große Chance für den Wirtschaftsjournalismus”, sagte der Private-Equity-Experte der “Zeit”, Arne Storn. Er beobachte aber vor allem bei tagesaktuellen Medien immer wieder, “wie Informationen ungeprüft übernommen werden, die sich bei der eigenen Recherche als falsch herausstellen und oft mit nur einem Anruf hätten entlarvt werden können”.
Auch Joachim Weidemann, der ehemalige Leiter der Holtzbrinck-Journalistenschule mahnte zur Sorgfalt, dem steigenden Zeitdruck zum Trotz: “Falsche Informationen, vor allem in der Wirtschaftsberichterstattung, schaden nicht nur dem Ansehen der jeweiligen Redaktion. Sie können auch falsche Entscheidungen in Unternehmen verursachen.” Wie Tagesschau-Korrespondent Ingo Nathusius vom Hessischen Rundfunk forderte auch Weidemann: “Wirtschaftsjournalisten müssen ihren Kopf einschalten, kaufmännisches Wissen mitbringen und die unterschiedlichen Interessen der einzelnen Akteure herausfiltern, um zu verstehen, was vor sich geht.”
Weitere Informationen
Wie Sie Unternehmenszahlen erhellen. Wie Sie sich auf Stichtage vorbereiten. Welche Posten Sie genauer ansehen sollten. Welche Fragen Sie dazu stellen könnten. Was Shenanigans bedeuten.
Joachim O. Weidemann: “Zahlentüftler” (56 S., 501 KB) [PDF]
Dokumentation und Ergebnisse
Zur Dokumentation der Fachtagung in Form der nr-Werkstatt gelangen sie hier.
Am Ende der Tagung wurde ein Diskussionsentwurf für zehn Thesen zum kritischen Wirtschaftsjournalismus präsentiert.
Hintergrundmaterial zur Tagung
“Im Strompreis ist noch viel Luft”
Matthias Kurth, Präsident der Bundesnetzagentur, streitet für die Interessen der Verbraucher. Ein Gespräch über seinen Kampf gegen die Exmonopolisten, fehlenden Wettbewerb und das nahende Ende der staatlichen Preisaufsicht Interview von Cerstin Gammelin und Fritz Vorholz
DIE ZEIT, 31.08.2006, Nr. 36
Das Fernsehen verzeichnet die Berufswelt. Die Entwicklung der Wirtschaftsberichterstattung in Fernsehen, Hörfunk und Presse 2006
(Stellungnahme des Ernst-Schneider-Preises der Deutschen Industrie- und Handelskammer e.V.) {PDF-Datei, 8 S., 116 KB}
Abgedreht. Die Krise beim Armaturenhersteller Grohe ist ein Lehrstück über Finanzinvestoren: Sie verstehen Deutschland so wenig wie Deutschland sie / Von Arne Storn
DIE ZEIT 09.06.2005, Nr.24
In der Hand der Jongleure. Immer schneller, immer spektakulärer: Das Geschäft der Finanzinvestoren läuft heiß. Kommt es zum Knall, leidet die Weltwirtschaft. Von Arne Storn
DIE ZEIT, 31.08.2006, Nr. 36
“Völlig gaga!” Er beherrscht das Geschäft der Manipulation: PR-Berater Klaus Kocks über den Siemens-Chef und andere Image-Desaster
Interview von Matthias Stolz und Arne Storn
DIE ZEIT, 12.10.2006, Nr. 42
Wider das investigative Gehabe! Die verklärende Selbstdarstellung der journalistischen Grandseigneurs ist unaufrichtig und steht der Vermittlung von Recherche im Wege. In Wahrheit ist Recherche vor allem Handwerk – und durchaus lernbar.
Von Marcus Lindemann {4 S., 884 KB}
“Kostenlos aber nicht umsonst: Was Profidatenbanken auch ohne Bezahlung hergeben.” Weblog recherche-info.de, 22.06.2006
McKinsey und ich. Zwecks verdeckter Recherche bewarb sich die Journalistin Julia Friedrichs bei McKinsey, einer mächtigen, aber zugeknöpften Beraterfirma. Ein halbes Jahr dauerte das bizarre Auswahlverfahren, in dem sie Menschenbild, Größenwahn und Verführungskünste des Unternehmens kennen lernte. DIE ZEIT 18.05.2006, Nr.21