Newsletter Netzwerk Recherche 238 vom 25.10.2024
Liebe Kolleg:innen,
als ich Mitte der 90er Jahre ein paar Monate bei Zeitungen in Dresden und Leipzig arbeitete, konnte ich miterleben, wie westdeutsche Verlage die großen ostdeutschen Lokalblätter kauften und deren Chefredakteure ganze Redaktionen radikal umbauten. Klar, die alten SED-Funktionäre mussten gehen, aber wichtige Posten wurden mit Westdeutschen besetzt und nicht mit den Kolleg:innen, die gerade noch vor der Nikolaikirche friedlich protestiert und viel riskiert hatten. Viele redaktionelle Stimmen, die die Region seit Jahrzehnten kannten, wurden nicht mehr gehört oder verschwanden nach und nach ganz. Und so kam es immer wieder zu Konflikten mit den neuen Chefredaktionen. Altgediente Redakteur:innen warnten davor, die Bedürfnisse und den Blick der ostdeutschen Leserschaft zu verlieren. Vergeblich. Und so fanden sich die ostdeutschen Leser:innen in den westdeutsch geführten Blättern nicht wieder. Die Leser:innen kündigten in Scharen ihre Abos, die Print-Auflagen schrumpften, Digitalabos schlossen nur wenige ab. Heute gibt es im Osten schon einige Regionen ganz ohne gedruckte Lokalzeitung. Jan Böhmermann zeigte gerade mit seinem Team, wie Rechtspopulisten die Krise des Lokaljournalismus eiskalt ausnutzen und nun ihre Postillen verbreiten.
Wenn Lokaljournalismus wegfällt, funktioniert die demokratische Gesellschaft eben nicht mehr. Gemeinsam mit Netzwerk Recherche untersuchen derzeit Forscher:innen der Hamburg Media School, wie sich die Situation der Tageszeitungen seit der deutschen Wiedervereinigung verändert hat und welche Folgen eine schwache Lokalpresse für das demokratische Gemeinwesen haben wird. Die Ergebnisse des sogenannten Wüstenradars präsentieren wir Ende November in Kooperation mit der Rudolf Augstein Stiftung und Transparency International Deutschland. Aus unserer Sicht eine wichtige Pionierstudie. Wir als Netzwerk Recherche denken derzeit intensiv darüber nach, wie wir als Verein auch tiefere Recherchen im Lokalen weiter unterstützen können. Denn wir finden, Lokaljournalismus ist ein Garant für eine funktionierende Demokratie.
Euer
Christian Esser
Christians Tipps des Monats
Es ist kompliziert… – Der Osten in den Medien
Zum 35-jährigen Tag des Mauerfalls empfehle ich euch diese sehr kluge TV-Analyse der MDR-Kolleg:innen über das Bild Ostdeutschlands, das Medien über Jahrzehnte geprägt haben. Zu Wort kommen unter anderem Marieke Reimann, Hajo Schumacher, Christoph Dieckmann, Anja Reich und viele mehr.
Inside Bündnis Wagenknecht
Die 5-teilige Doku-Serie der ZDF-Kolleginnen Christiane Hübscher und Andrea Maurer zeigt seltene Einblicke in die Partei von Sahra Wagenknecht und geht der Frage nach, worin eigentlich der Erfolg des BSW liegt. Ein Jahr lang haben die Autorinnen die Bewegung begleitet.
Russische Spionageschiffe in der Ostsee
NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung deckten kürzlich auf, dass russische „Forschungsschiffe“ kritische Infrastruktur in der Nord- und Ostsee ausspionieren. Die Ergebnisse des internationalen Rechercheprojekts „Russian Spy Ships“ haben die Kolleg:innen grandios aufbereitet – in einer TV-Doku und online bei sueddeutsche.de. Hierzu veranstalten wir im November einen NR-insights mit Marie Blöcher (NDR) und Benedikt Heubl (SZ) – weitere Infos dazu folgen demnächst unter nrch.de/insights.
EigenanzeigeAus dem Netzwerk Recherche
Launch unserer Studie zum gemeinwohlorientierten Journalismus
Wie geht es dem gemeinwohlorientierten Journalismus in Europa? Wo liegen die größten Herausforderungen für unabhängige Medien-Start-ups? Und welche gesellschaftliche Bedeutung hat die neu entstehende Medienvielfalt? Diese und andere Fragen beantworten wir in unserer im Rahmen des „Journalism Value Project“ entstandenen Studie, die wir am 28. November um 10 Uhr im Publix vorstellen. Nach einer kurzen Präsentation der Ergebnisse laden wir alle Teilnehmenden ein, die gewonnenen Erkenntnisse zu diskutieren. Aufgrund begrenzter Kapazitäten ist eine Anmeldung für die Teilnahme erforderlich. Die Veranstaltung wird auf Englisch stattfinden.
Schnack über mentale Gesundheit im Journalismus in Hamburg
Du lebst im Norden, arbeitest im Journalismus und fühlst dich durch ständigen Stress, Erreichbarkeit und andere Herausforderungen mental belastet? Die Freischreiber, Netzwerk Recherche und das Mediennetzwerk Mentale Gesundheit laden dich zu einem Netzwerktreffen ein, das dir einen geschützten Raum bietet, um dich in vertraulicher Runde mit Kolleg:innen auszutauschen und über Wege zur Selbstfürsorge zu sprechen. Am 3. Dezember um 19 Uhr in Hamburg. Wer akut Hilfe braucht, kann sich an die Helpline wenden.
Gewinner:innen des Greenhouse Fellowships und Grow-Stipendien
Das Greenhouse Fellowship 2024 geht an Tamara Keller und Corinna Cerruti. Unter dem Titel„Adieu, Journalismus! Recherchen zum Ausstieg aus dem Beruf” untersuchen sie, warum Journalist:innen, besonders nach der Familiengründung, aus der Branche ausscheiden. Mit der Recherche wollen sie Missstände sichtbar machen und sich für mehr Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft einsetzen. Kennt ihr Kolleg:innen, die während der Familiengründung oder in den ersten Jahren mit Kind die Branche verlassen haben? Dann mailt gerne den Stipendiatinnen!
Außerdem stehen die Gewinner:innen der Grow-Stipendien 2024/25 fest. Jacob Queißner bringt mit „Gerda“ communitybasierten Journalismus nach Gera, der dank des Stipendiums vom Newsletter zum Magazin wächst. Das Zürcher WAV Recherchekollektiv fördert Transparenz in unterrepräsentierten Themen und stärkt durch das Stipendium seine Strukturen. Laura Vorsatz beleuchtet mit ihrem Podcast „Feminismus mit Vorsatz“ feministische Bewegungen und arbeitet an neuen Inhalten, darunter der Aufbereitung ihrer Recherche aus dem Libanon. Wir gratulieren herzlich!
GIJN Deutsch
Internationale Recherche des Monats: Die Abschiebe-Maschine
Diese Recherche von Lighthouse Reports in Kollaboration mit zahlreichen europäischen Medien deckt auf, dass die EU Millionen von Euro in ein Abschiebesystem gesteckt hat, das kurz vor den Grenzen der Türkei eingesetzt wird. Syrische und afghanische Geflüchtete wurden darin inhaftiert, missbraucht und sogar getötet.
GIJN Investigativ Check: Investigative Podcasts
Podcasts sind seit einigen Jahren für viele fester Bestandteil des Alltags. Insbesondere investigative Podcasts bieten mit einem guten Storytelling die Möglichkeit, komplexe, vielschichtige Recherchezusammenhänge so zu vermitteln, dass sie spannend und informativ sind – und man gerne zuhört. Die freie Journalistin Pia Stendera erzählt in einer neuen Folge des GIJN Investigativ Check, worauf es bei investigativen Podcasts ankommt, was sie gelernt hat und was einen Podcast überhaupt erst spannend macht. Hier könnt ihr das Video nachschauen.
GIJC25: Call for Ideas
Ideen gefragt! Für die Global Investigative Journalism Conference (GIJC25) des GIJN in Kuala Lumpur, Malaysia können jetzt Ideen für Panels und Workshops eingereicht werden. Einsendeschluss hierfür ist der 20. Dezember 2024.
Nachrichten
Arne Semsrott schuldig gesprochen
FragDenStaat-Chefredakteur Arne Semsrott ist wegen der Veröffentlichung von Gerichtsdokumenten zu einer Geldstrafe auf Bewährung verurteilt worden. Er hatte gegen § 353d Nr. 3 StGB verstoßen, der es verbietet, amtliche Dokumente aus laufenden Verfahren wortwörtlich zu zitieren oder komplett zu veröffentlichen. Netzwerk Recherche fordert schon lange gemeinsam mit anderen Organisationen eine Reform zur Abschaffung des Paragraphen. Bei der diesjährigen Jahreskonferenz hatte Arne Semsrott gemeinsam mit anderen Journalist:innen über das Thema diskutiert. Semsrott will Revision gegen das Urteil einlegen und notfalls bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen.
Neue Fachpublikation zu KI- und Investigativjournalismus
Das „Handbuch Daten und KI im Journalismus” ist kürzlich im Herbert von Halem Verlag erschienen, herausgegeben von Christina Elmer (kooptiertes NR-Vorstandsmitglied und Co-Organisatorin der Fachgruppe Datenjournalismus) und Lorenz Matzat. In 21 Beiträgen widmet sich das Buch der journalistischen Arbeit mit Daten und KI, klärt auf und befasst sich mit ethischen Fragen des datenbasierten Journalismus.
Andrea Claudia Hoffmann, Professorin an der HAW Hamburg, hat den Band „Investigativer Journalismus in Deutschland“ im Wissenschaftsverlag Springer VS publiziert. In dem Buch berichten Deutschlands führende Investigativ-Journalist:innen über ihre Recherchen wie Cum-Ex, die Panama Papers oder die RBB-Affäre und geben Tipps. Allerdings hätten man auf eine ausgeglichenere Geschlechterverteilung achten können (14 männliche Autoren zu vier weiblichen, inklusive der Herausgeberin).
Veranstaltungen, Preise & Stipendien
Wissenswertes bei „Wissenswerte“
Die Konferenz „Wissenswerte“ für Wissenschaftsjournalismus bietet auch dieses Jahr wieder Podiumsdiskussionen, Vorträge und Workshops zu aktuellen journalistischen und wissenschaftlichen Themen wie Klimajournalismus oder den Wahlen in den USA. Die Konferenz findet vom 30. Oktober bis 1. November 2024 statt.
Arbeiten und recherchieren in Nordeuropa
Mit dem „Deutsch-Nordeuropäischen Journalistenprogramm“ des IJP können Journalist:innen (einschließlich Volontär:innen) einen journalistischen Arbeitsaufenthalt in einem skandinavischen oder baltischen Land verbringen. Das Stipendium der Organisation „Internationale Journalisten-Programme“ umfasst 3.800 Euro, eine Einführungstagung in einer der nordischen Hauptstädte oder Berlin im März 2025 und endet mit einer Abschlusstagung im Mai 2025. Die Bewerbungsfrist ist am 15. November 2024.
Für European Press Prize bewerben
Journalist:innen aus den 46 Ländern des Europarats (einschließlich Belarus und Russland) können ihre besten Arbeiten für den European Press Prize 2024 einreichen. Egal ob Exposé, Kolumne oder genreübergreifendes Projekt, der Preis möchte Qualitätsjournalismus würdigen, fördern und andere dazu inspirieren. Der European Press Prize wird in fünf Kategorien vergeben, die jeweils mit 10.000 Euro dotiert sind. Mehr Infos und die Teilnahmeberechtigung gibt es hier. Bewerbungsschluss ist der 14. Dezember 2023.
Peter Hans Hofschneider Recherchepreis
Die Stiftung Experimentelle Biomedizin vergibt wieder den mit 20.000 CHF dotierten Peter Hans Hofschneider Recherchepreis für exzellenten Wissenschafts- und Medizinjournalismus. Prämiert werden Arbeiten oder Rechercheprojekte, die wissenschaftliche und medizinische Themen fundiert und verständlich aufbereiten. Das Stipendium umfasst Honorar sowie Reise- und Sachkosten. Einsendeschluss ist der 31. Dezember 2024.
science x media Tandem
Das science x media Tandem der Charité geht in eine neue Runde. Medienschaffende arbeiten in einem sogenannten Tandem mit Personen aus der Wissenschaft zusammen an einem Vorhaben – und stärken dabei die Wissenschaftskommunikation. Der Förderzeitraum beträgt zwei bis neun Monate, jeweils mit bis zu 15.000 Euro monatlicher Förderung. Die Bewerbungsfrist für Ideenskizzen endet am 25. Oktober 2024, die für Vollanträge jedoch erst am 31. Januar 2025.
Fortbildungen
- Wer fragt, führt: Das politische Interview, Webinar der Friedrich-Ebert-Stiftung, 29. und 30. Oktober 2024
- Pitch it Right: Storytelling im Förderantrag, Webinar von Netzwerk Recherche, 7. November 2024
- Fakten finden in Zeiten von Desinformation, Webinar der ARD.ZDF medienakademie, 8. November 2024
- KI-generierte Bilder für jeden Zweck – DALL-E, Midjourney und Co., Webinar der ARD.ZDF medienakademie, 11. November 2024
- Update zum Einsatz von KI im Journalismus, Medienakademie der er Friedrich-Ebert-Stiftung, 14. und 15. November 2024
- Journalistische Arbeit mit behördlichen Daten – wie gelingt die Zusammenarbeit?, Workshop des Umweltbundesamtes, 21. November 2024
- So many voices, Podcastkonferenz von hauseins, 22. und 23. November 2024
- Konstruktiv über die Klimakrise berichten, Seminar der ARD.ZDF medienakademie, 25. November 2024
- ChatGPT & Co.: Förderungen identifizieren und Pitches vorbereiten, Webinar von Netzwerk Recherche, 5. Dezember 2024
Zum Schluss
Eine lebhafte Diskussion beim beim Publix Thursday. Foto: Vivienne MoiseEmpowerment im (investigativen) Journalismus
Wie können wir Ungleichheiten für Frauen und Queers im Journalismus abbauen? Darüber haben beim Publix Thursday am 17. Oktober Gabriela Manuli, Sarah Ulrich, Ana P. Santons, Gabriela Ramírez, Marlene Obst und Morgan Malone (v.l.n.r.) diskutiert.