Laudatio zur Verleihung des Leuchtturm 2002
Leuchtturmpreisträger 2002: Christoph Lütgert und Siri Nyrop
Laudator: Hans Leyendecker, zweite Vorsitzende von Netzwerk Recherche
Liebe Anwesende, lieber Christoph Lütgert,
man hat nicht so oft im Leben das Gefühl, am richtigen Ort zu sein. Ich habe dieses Gefühl jetzt. Ich freue mich. Ich freue mich, dass die Dokumentation über das Lipobay-Desaster von der Jury der Journalisten-Vereinigung netzwerk-recherche mit dem erstmals vergebenen Leuchtturm ausgezeichnet wurde. Ganz besonders freue ich mich aber, dass Christoph Lütgert und Siri Elise Nyrop den Preis bekommen. Es ist mir eine Ehre für Lütgert, der Chefreporter Fernsehen beim NDR ist und Siri Nyrop, freie Producerin in den USA, eine kleine Lobrede halten zu dürfen.
Alten Weggenossen von Christoph Lütgert fällt bei seinem Namen zumeist das Wort Krise ein. Das kommt so: In seiner journalistischen Jugendzeit arbeitete er in Düsseldorf bei dpa und wenn es damals Zoff in der NRW-Regierung gab, spuckte der Nachrichtenticker Meldungen aus, die überschrieben waren mit “Krise 1”, drunter stand dann: “folgt Krise 2 und Schluss”. Der Verfasser war Christoph Lütgert – der Schrecken der Faulen in der Landespressekonferenz und gleichzeitig ihre einzige Quelle.
Es wäre aber ein Fehler, zu glauben, bei ihm handele es sich um einen Vertreter der spezies rasender Verfolger. Verfolger sind Leute, die Kerben-Journalismus betreiben, die andere abschießen wollen. Also die Sumpfblüten des recherchierenden Journalismus. Recherchierende Journalisten dürfen nicht Jäger sein.
Neulich habe ich einer Anzeige des Verlages Zweitausendeins entnommen, dass es heutzutage auch noch eine andere spezies gibt: “Investigative Konspirologen” . Was? Wer? Investigative Konspirologen. Das sind Leute, die unter anderem genau wissen, dass der 11. September ganz anders war und darüber Bücher schreiben, die reißenden Absatz finden. Durch Recherche lassen sie sich keine These, vor allem keine Verschwörungsthese, kaputt machen. Anderseits: So neu ist das auch nicht.
Nein, mit all denen hat Lütgert gar nichts zu tun und das will ich Ihnen wieder an einem Beispiel erläutern:
In Düsseldorf gab es mal einen unglücklichen, etwas schrägen FDP-Politiker. Der hieß, die Älteren werden sich noch erinnern, Horst-Ludwig Riemer, war Wirtschaftsminister im Kabinett Rau und hatte mit sich und dem Rest der Welt seine Probleme.
Manchmal nahm er Tabletten, manchmal trank er ein wenig und wenn das zusammenkam, war er der Inbegriff des Sicherheitsrisikos. In einer solchen Situation hat Lütgert abends mal ein Interview mit ihm geführt. Riemer redete sich um Kopf und Kragen. “Wollen Sie das wirklich sagen?” fragte Lütgert. Ja, sagte der Minister, den in solchen Augenblicken niemand bremsen konnte. Lütgert wies darauf hin, das Gesagte könne viel Ärger machen. Der Minister blieb dabei. Am nächsten Morgen hat Lütgert noch einmal nachgefragt, ob der Minister das Interview absegne. Nüchtern blieb der bei seinem Ja. Das Interview erschien und Lütgert bereitete sofort eine zweite Geschichte vor. Diesmal nicht “Krise 1”, sondern “Sturz 1”, folgt “Sturz 2 und Schluss”. Abends war Riemer nicht mehr Minister.
Ich möchte in dieser Laudatio nicht einen Lebenslauf vortragen, sondern nur noch ein paar Stationen erwähnen. NDR-Hörfunkstudio in Bonn, Erster Redakteur bei Panorama, dann Chefreporter Fernsehen NDR. Kein Blender, eher ein Zweifler, vor allem in eigener Sache. Einer, der in kein Schema passt; auch nicht in das Schema der Leute, die in kein Schema passen.
Aber immer Journalist. Ein schöner Beruf, ein schwieriger Beruf. Gerade heute. Wir leben heute in einer aufgeregten Zeit. Jede Woche wird eine neue Sau durchs Dorf getrieben und die Herde der Schweine wird immer größer. Wer heutzutage ein kritisches Fernsehmagazin macht, braucht unbedingt so genannte Klappermeldungen, damit die Welt weiß, dass es dieses Magazin wirklich gibt. Ständig weiten sich Geschichten aus, bis sie dann doch wieder platzen. Ständig ist irgendjemand angeblich noch tiefer verstrickt, als bislang angeblich bekannt. Alte Geschichten werden recycelt und frisch geschminkt. Selbst Fachleute erkennen manchmal nicht auf den ersten Blick, welches Rouge gerade aufgelegt wurde.
Fortwährend werden neue Trends, Krisen und Seuchen entdeckt. Alarmismus statt ruhiger Analyse.
Andererseits möchten viele Journalisten immer in Augenhöhe mit den jeweils Herrschenden sein. Eine der ältesten Krankheiten des deutschen Journalismus ist die Verwischung von Grenzen zur Politik, zur Wirtschaft, der gegenseitigen Instrumentalisierung für politische und eigennützige Zwecke. Man äußert sich nur ungern jenseits dessen, was gerade als Konsenskorridor gilt und bitte kein Risiko. So macht man Karriere. Schönfärberei statt Wachsamkeit. Das ist mindestens so gefährlich wie die alltägliche Hysterie.
Der Film “Das Lipobay-Desaster” ist ein eindrucksvolles Beispiel für eine ergebnisoffene Recherche ohne Untertreibung und Überzeichnungen. Gezeigt wird das Desaster des Leverkusener Bayer-Konzerns, der im Sommer vorigen Jahres das cholesterinsenkende Präparat Lipobay vom Markt nehmen musste, weil es bei höheren Dosierungen zu einer Zerstörung der Muskulatur und zu einer Verstopfung der Nieren gekommen war, was in etlichen Fällen zum Tod führte.
Der Film zeigte, wie schmutzig es im sauberen Pharma-Gewerbe zugehen kann und vermittelte seltene Einblicke in eine komplizierte Welt. Am Anfang der Recherche hatten die Autoren eine Arbeitshypothese, die Bayer vermutlich gefallen hätte: Gierige amerikanische Anwälte wollen einen deutschen Konzern plündern. Im Laufe der Recherche entstand ein ganz neues Bild. Bayer hat möglicherweise aus Profitgier den Tod von Patienten in Kauf genommen. Ein unbequemer Film, ein mutiger Film. Dank auch an den NDR und dessen Chefredakteur, der diese Produktion möglich gemacht hat.
Es gibt zu wenig solcher Filme. Die Investigation ist ein Stiefkind des Journalismus, ganz besonders beim Fernsehen. Recherche und gutes Handwerk spielen in den Sendern immer weniger eine Rolle gegenüber dem Wort-und Bildmanagement. Der starre Blick auf die Quote ist nicht ungefährlich. Es gibt immer weniger Termine für investigative Dokumentationen, da unbequeme Themen und Feature auch für Hierarchen unbequem sein können. Weil es an Plätzen für solche Filme fehlt, werden immer seltener gute Stoffe angeboten. Zeitungen und Sender beschäftigen nur wenige Rechercheure, die Enthüllungsstories liefern wollen. Ein freier Autor, der dem Fernsehen eine rechercheintensive Geschichte anbietet, wird sich dreimal überlegen müssen, ob er die Geschichte durchzieht. In der Regel wird die Recherche nicht bezahlt und was ist, wenn am Ende keine story rauskommt, was ja schon mal passieren kann. Recherchen kosten viel Zeit und Geld und die Quote ist auch nicht garantiert. Wer trotz alledem die Recherche pflegen möchte, muss sich diesen Luxus oft mit Brot-und-Butter-Geschäften finanzieren. Es ist viel einfacher, schöne Pressemeldungen filmisch zu übersetzen und mit den Zweitverwertungsrechten die Kasse aufzubessern, als etwas komplizierte Geschichten anzubieten, die auch noch Ärger machen können.
Journalisten sind oft Einzelgänger, obwohl wir seit frühen wissen, dass es für den Menschen besser sein kann, zu zweit zu sein. Das Werk, das wir heute würdigen, ist eine Gemeinschaftsarbeit.
Leider kann Siri Nyrop, die Co-Autorin, nicht bei uns sein. Sie ist eine der besten Rechercheurinnen, die ich kenne. Anfang der neunziger Jahre sind wir uns bei Recherchen über die Exporteure des Todes, die Saddam ausstatteten, erstmals über den Weg gelaufen.
Sie war in langen Jahren Producerin vieler spannender Stücke. Ich nenne nur ein paar: Bandenkriege in Los Angeles, die politische Biografie von Hillary Clinton, der Bombenanschlag in Oklahoma City und natürlich der 11. September. Nüchtern, hart, nicht bestechlich. Nicht frei von Selbstzweifeln, keine investigative Konspirologin. Producer in den USA sind hochgeachtete Journalisten. Bei uns tauchen sie kaum mal in Beiträgen auf. Die im On stehen im Licht.
Dieser Leuchtturm, der von nun an jedes Jahr vom Netzwerk Recherche für besondere publizistische Leistungen verliehen werden und Licht werfen soll, hat mit Siri Nyrop und Christoph Lütgert zwei würdige erste Preisträger gefunden.
Beiden wünsche ich im Namen der Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche noch viele gesunde Jahre und viel Schaffenskraft. Es gibt viel spannenden Stoff. Man muss sich nur trauen.
Ich danke Ihnen für die Geduld.